Was ist der Anströmwinkel?
Der Anströmwinkel ist der Winkel zwischen der Windrichtung, die ein Fahrer spürt, und der Fahrtrichtung. Wenn zum Beispiel kein Wind weht, ist der Anströmwinkel null, weil der Wind direkt von vorne kommt. Wenn du mit 30 km/h fährst und der Wind mit 15 km/h aus einem Winkel von 90° zu deiner Fahrtrichtung weht, beträgt der Anströmwinkel 30°, weil das die Richtung ist, in die sich die Luft relativ zu dir bewegt.

Warum ist der Anströmwinkel wichtig?
Auch wenn wir den Luftwiderstandsbeiwert (Cw-Wert) als konstant ansehen, ändert er sich mit der Windrichtung. Vor allem Räder, aber auch Rahmen können sehr empfindlich auf die Windrichtung reagieren. Manche Räder haben bei bestimmten Anströmwinkeln einen negativen Luftwiderstand, was bedeutet, dass sie dich auch bei Gegenwind vorwärts treiben.
Es gibt noch das Phänomen des Strömungsabrisses, wenn der Anströmwinkel einen bestimmten Punkt erreicht. An diesem Punkt kann die Luft dem Profil nicht mehr folgen, löst sich ab und wird turbulent. Je nachdem, wie abrupt das passiert, kann es zu ernsthaften Problemen beim Handling bei Seitenwind kommen, vor allem, wenn das Vorderrad betroffen ist. Der Luftwiderstand steigt ab dem Strömungsabrisspunkt auch schnell an. Es überrascht daher nicht, dass in der Aerodynamikentwicklung viel Aufwand betrieben wurde, um den Strömungsabriss zu verzögern. Dies zeigt sich in den heute üblichen voluminöseren, runderen Felgenprofilen im Vergleich zu den V-förmigen Profilen früherer Aero-Felgen. All diese Bemühungen haben zu aerodynamischen Profilen geführt, die bei Anströmwinkelnwinkeln von 10° bis 20° eine hervorragende Performance zeigen. Das führt jedoch zur nächsten Frage:
Welche Anströmwinkel sind relevant?
Dafür gibt's keine eindeutige Antwort, aber es kommt hauptsächlich auf zwei Sachen an: wie schnell du fährst und wie windig es ist, wo du unterwegs bist. Anhand dieser beiden Faktoren kannst du eine Gewichtungsfunktion erstellen, die einen gewichteten Mittelwert für den Luftwiderstand bei verschiedenen Anströmwinkeln errechnet. Das machen die meisten Magazine und Marken, weil eine einzige Zahl für die Luftwiderstandsreduzierung viel einfacher zu verstehen ist. Allerdings lässt sich damit auch gut manipulieren, um sich selbst in einem besseren Licht darzustellen oder die Aerodynamik relevanter erscheinen zu lassen.
Normalerweise geht man von einer Fahrgeschwindigkeit aus und erstellt anhand von Winddaten eine Wahrscheinlichkeitsverteilung. Als Beispiel haben wir öffentlich zugängliche Winddaten aus Freiburg verwendet. Der Wind folgt einer Weibull-Verteilung, deren Parameter in den veröffentlichten Daten enthalten sind. Der nächste wichtige Schritt besteht nun darin, zu berücksichtigen, dass diese Winddaten aus einer Höhe von 10 m über dem Boden stammen und der Wind in Bodennähe langsamer ist. Glücklicherweise gibt es eine Formel, um dies zu korrigieren. Unter der Annahme, dass die Windrichtung zufällig verteilt ist, können wir mit dem Monte-Carlo-Experiment eine Wahrscheinlichkeitsverteilung erstellen. Wenn wir diese als Standard-Wahrscheinlichkeitsverteilung darstellen, erhalten wir eine Standardabweichung von 9,5° bei einer Fahrgeschwindigkeit von 35 km/h, was nahe an den in vielen Veröffentlichungen verwendeten 10° liegt. Wenn wir die Geschwindigkeit auf 45 km/h erhöhen, sinkt die Standardabweichung auf 7,2°.
Wir sind aber der Meinung, dass dabei ein wichtiger Aspekt übersehen wird, nämlich dass wir bei hohen Windgeschwindigkeiten viel mehr von der Aerodynamik profitieren. Anstelle der normalen Durchschnittsgeschwindigkeit sollten wir das kubische Mittel der Geschwindigkeit verwenden. Wie wir wissen, steigt die zur Überwindung des Luftwiderstands erforderliche Leistung mit der dritten Potenz zur Geschwindigkeit. Um realistisch zu bleiben, sollten wir Abfahrten ausschließen, bei denen die Geschwindigkeit eher durch Sicherheit und Handhabung des Fahrrads als durch den Luftwiderstand begrenzt ist. Wenn wir das tun, wird die Standardabweichung unserer Gewichtungsfunktion kleiner.
Außerdem verringern das Fahren in einer Gruppe, im Verkehr oder auf windgeschützten Straßen den Anströmwinkel. Es scheint, dass wir in der Regel eher hohe Anströmwinkel annehmen, und dafür gibt es mehrere Gründe.
Der Einfluss der Gewichtungsfunktion
Wie schon erwähnt, geht es bei der aerodynamischen Optimierung oft darum, den Strömungsabriss zu verzögern. Aber gleichzeitig zeigt uns die Gewichtungsfunktion, dass ein niedriger Anströmwinkel am wichtigsten ist. Das klingt widersprüchlich, aber es gibt gute Gründe, warum viel in die Aerodynamik bei höheren Anströmwinkeln investiert wird. Der erste Grund ist, dass die Verbesserung des Luftwiderstands bei niedrigem Anströmwinkel zu Profilen führt, die bei höheren Anströmwinkeln sehr schlecht funktionieren und sehr abrupt abreißen, was zu ernsthaften Handlingproblemen führen kann. Außerdem kann man bei höheren Anströmwinkeln und durch Verzögerung des Strömungsabrisses viel größere Verbesserungen erzielen als durch Verringerung des Luftwiderstands bei niedrigem Anströmwinkel. Wenn man sich Grafiken wie die untenstehende ansieht, sieht man, dass viele Räder bei niedrigem Anströmwinkel einen ziemlich ähnlichen Luftwiderstand haben, die Unterschiede aber bei höheren Anströmwinkeln größer werden.

Das heißt auch, dass die durchschnittlichen Verbesserungen größer sind, wenn wir einem höheren Gierwinkel mehr Gewicht geben. Das ist natürlich hilfreich, wenn du über eine verbesserte Aerodynamik berichten willst.
Nehmen wir als Beispiel ein kürzlich eingeführtes Produkt, nennen wir es „Produkt A“. Das ganze Marketing dreht sich um Aerodynamik und behauptet, dass es im Vergleich zum bereits bekannten Produkt B weniger Luftwiderstand hat und besser zu handhaben ist. Der Konkurrent hat das Produkt C, das aerodynamisch nicht so gut abschneidet. Und das kann man auch nachvollziehen, wenn man sich die Ergebnisse eines unabhängigen Windkanaltests ansieht.

Wenn man genauer hinschaut, sieht man, dass alle drei Produkte bis zu 10° Anströmwinkel fast gleich gut abschneiden. Produkt C ist hier sogar ein bisschen besser, aber dann kommt es zu einem starken Strömungsabriss. Jetzt kann der Hesteller von Produkt A zu Recht von einem verbesserten Handling und einem geringeren Luftwiderstand sprechen, vor allem bei langsameren Geschwindigkeiten, bei denen man einen höheren Anströmwinkel hat. Aber der Hersteller von Produkt C kann auch einen geringeren Luftwiderstand geltend machen, indem er einfach eine andere Gewichtung verwendet, die hohe Geschwindigkeiten und einen geringen Anströmwinkel bevorzugt, wo der Luftwiderstand dominiert.

Das zeigt, wie man mit der Gewichtungsfunktion super Ergebnisse steuern kann, ohne die Fakten zu fälschen.
Die Grenzen von Aerodynamiktests auf der Strasse
In den letzten Jahren sind aerodynamische Tests auf der Straße immer beliebter geworden. Aber der Anströmwinkel ist bei Tests auf der Straße ein echtes Problem. Die Virtual Elevation Methode (auch Chung-Methode genannt) ist ein toller, günstiger Ansatz, berücksichtigt aber den Anströmwinkel nicht und eignet sich am besten für Tage mit wenig Wind, an denen der Anströmwinkel konstant nahe Null liegt. Aero-Sensoren können den Anströmwinkel messen und liefern zumindest theoretisch anströmwinkelabhängige Ergebnisse. Welche Anströmwinkel du messen kannst und wie viele Datenpunkte du erhältst, hängt aber von den Windverhältnissen ab. Im Windkanal erhalten wir in wenigen Minuten eine enorme Anzahl von Datenpunkten, die gleichmäßig über den gesamten Anströmwinkelbereich verteilt sind. Deshalb halten wir den Windkanal nach wie vor für die genaueste Methode zur Messung der Aerodynamik eines Produkts, insbesondere wenn es sehr anströmungsempfindlich ist, wie Räder oder Rahmen.
Widersprüche
Das ganze Thema des Anströmwinkels ist voller Widersprüche: Zum Beispiel profitieren Felgen mit tiefem Profil am meisten von einem hohen Anströmwinkel. Aber die werden hauptsächlich bei hohen Geschwindigkeiten (wo der Anströmwinkel normalerweise niedrig ist) verwendet, und ihr Handling ist bei Seitenwind, wo man eigentlich vom Segeleffekt profitieren würde, echt beängstigend. Oder: Ein geringerer Luftwiderstand bei hohem Anströmwinkel bedeutet, dass man schneller fahren kann, was wiederum den Anströmwinkel verringert. Fahrer bei niedrigeren Geschwindigkeiten erleben einen höheren Anströmwinkel und profitieren daher vom Segeleffekt, aber gleichzeitig ist der Luftwiderstand bei diesen niedrigeren Geschwindigkeiten weniger relevant.
Was lernen wir daraus?
Erstens: Betrachte aerodynamische Testergebnisse mit einer gewissen Skepsis, vor allem gewichtete Durchschnittswerte. Wenn du dich näher mit Aerodynamik beschäftigen möchtest, finde heraus, welche Anströmwinkel für dich relevant sind, zum Beispiel mit der myWindsock-App, und schau nicht auf gewichtete Durchschnittswerte, sondern auf einzelne Luftwiderstandswerte bei verschiedenen Anströmwinkeln.
Für uns lernen wir daraus, dass das Streben nach guten Testergebnissen uns und die gesamte Branche davon abhalten kann, bessere Produkte für die Fahrer zu entwickeln. Es gibt nicht das eine schnellste Fahrrad, das hängt vom Fahrer, der Strecke, der Taktik und sogar von den Windverhältnissen ab, die sich von Tag zu Tag ändern können.